Wenn ein Verkehrsteilnehmer dem anderen die Vorfahrt nimmt, haftet er für dessen Schaden. Sollte man meinen. Stimmt aber nicht immer. Der BGH hat in mehreren Urteilen (z.B. am 20.9.11 zum A.Z. VI ZR 282/10) darauf erkannt, dass auch ein Vorfahrtsberechtigter anhalten oder ausweichen muss, wenn er erkennen kann, dass ein anderer Verkehrsteilnehmer seine Vorfahrt verletzt. Dies folgt letztlich aus dem allgemeinen Rücksichtgebot des § 1 II StVO. Wenn der Vorfahrtsberechtigte sieht, dass ihm die Vorfahrt „genommen“ wird und er dennoch nicht mit einer Bremsung reagiert, weil er davon ausgeht, dass es nicht zu einer Kollision kommen wird, gilt dasselbe. Die Haftung des Vorfahrtsberechtigten kann – je nach Einzelfall – bei etwa 30% angesetzt werden. Mit anderen Worten: der Vorfahrtsverletzer bekommt 30% seiner Ansprüche, der Vorfahrtsberechtigte 70% ersetzt. Eine ganz ähnliche Konstellation gibt es immer wieder bei den Auffahrunfällen. Hier heißt es immer „wer auffährt, ist Schuld“. Auch das stimmt so nicht. Und zwar regelmäßig dann nicht, wenn der Vordermann kurz vor dem Auffahren einen Spurwechsel vorgenommen hat. Thema ist hier der sogenannte Anscheinsbeweis. Wenn dieser eingreift, bedeutet das, dass vermutet wird, dass der Auffahrende entweder einen zu geringen Sicherheitsabstand hatte, oder wegen Unaufmerksamkeit auffuhr. Bevor jedoch von einem solchen Anscheinsbeweis ausgegangen werden kann, muss ein Geschehensablauf festgestellt werden, bei dem typischerweise auf eine bestimmte Konsequenz (nämlich die volle Haftung) geschlossen werden kann. Dieser „typische Geschehensablauf“ muss aber erst einmal von demjenigen bewiesen werden, der sich darauf beruft. Wenn nun aber das vorausfahrende Fahrzeug unmittelbar vor dem Auffahren die Fahrspur wechselt, FEHLT es an einer solchen typischen Unfallkonstellation. In dieser Situation fällt der Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden weg. Soweit das vorausfahrende Fahrzeug die Fahrspur gewechselt hat und sich in einigermaßen engem räumlichen und – vor allem – zeitlichen Zusammenhang mit diesem Spurwechsel der Unfall ereignet, liegt ein Verstoß gegen § 7 V StVO vor! Also nichts mehr mit Alleinschuld des Auffahrenden. Denn § 7 V StVO fordert die größtmögliche Sorgfaltspflicht beim Spurwechsel. Kommt es zu einem Unfall, steht fest, dass nicht nur eine Gefährdung, sondern sogar eine Schädigung eines anderen Verkehrsteilnehmers eingetreten ist. Dies kann im Extremfall sogar zu einem Anscheinsbeweis GEGEN den Spurwechsler (also zugunsten des Auffahrenden!) führen! Wie lange muss der Spurwechsel nun in der Vergangenheit liegen, damit ein solcher Zusammenhang nicht mehr gegeben ist? Die Gerichte gehen hier von ca. fünf Sekunden, und dies ist eine lange Zeit, aus (vgl. u.a. KG, Beschluss vom 6.5.10 zum A.Z. 12 U 144/09, NZV 2011, S. 185). Lässt sich – wie so häufig – im Ergebnis nicht mehr ermitteln, wie sich der Unfall genau zugetragen hat und wie lange der Spurwechsel her ist, wird regelmäßig eine hälftige Schadensteilung (50:50) vorgenommen. Häufig zahlen in diese Fällen die Versicherer zunächst gar nicht. Erst wenn der Anwalt beauftragt wird und die Ansprüche geltend macht, kommt Bewegung in die Sache. Verzichten Sie nicht auf Ihre Ansprüche, nur weil der Versicherer „mauert“! Eine Verkehrsrechtsschutzversicherung trägt die Kosten des Anwalts.
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